Der Weg durch die Überkausalen Reiche

Wenn der Initiierte die Region von Brahmand verlässt, durchquert er ein großes Gebiet des Inneren Raumes, um das überkausale Reich von Daswan Dwar zu erreichen, wo die letzte Reinigung der verlangenden Seele stattfinden muss. In Daswan Dwar sind alle Schleier und Hüllen der Seele entfernt, welche dann in ihrem vormaligen Glanz erstrahlt. Der Herr von Daswan Dwar ist Rarankar. In dieser gewaltigen Region badet die Seele im kosmischen See der Unsterblichkeit, der in der östlichen Terminologie als Mansarovar oder Amritsar bekannt ist. Einmal von ihren letzten Unreinheiten befreit, sehnt sich die Seele nach der glückseligen Vereinigung mit dem Höchsten Herrn der Liebe.

Über diesen wunderbaren Bereich hat Guru Nanak geschrieben:

[…] Als nächstes kommt der Bereich der Verzückung, in dem das Wort bezaubert. Alles dort Geschaffene ist von wunderbarer Seltenheit und jenseits aller Beschreibung. Wer immer ihn zu schildern versucht, hat seine Torheit zu beklagen. Hier werden Gemüt, Vernunft und Verstand vergeistigt, das Selbst kommt zu sich und durchdringt in seiner Entfaltung die Götter und Weisen.

Jap Ji, Strophe 36

Guru Nanak stellte fest, dass der Spirituelle See von Amritsar der einzige Wahre Ort der Heiligen Pilgerfahrt ist, der im Hindu, Christen, Moslem, Sikh, im Gläubigen wie auch im Ungläubigen liegt. Er ist ein kosmisches Zentrum der Spiritualität, wo die verlangende Seele von ihren Sünden befreit wird.

Ein paar der Weltreligionen nahmen ihren Anfang im überkausalen Bereich, aber das sind die Ausnahmen von der Regel, denn die meisten sozialen Glaubensgemeinschaften sind vom Kausalreich ausgegangen, mit Kal oder Brahm – es gibt verschiedene Namen – als ihrer höchsten Gottheit.

Mystiker und Schüler, die zu dieser verfeinerten Ebene aufsteigen, wo Geist in verschiedenen Graden mit Materie vermischt ist, sind in der Tat selten.

Die ganze kosmische Energie von Daswan Dwar hat die Struktur eines acht-blättrigen Lotus, der von Göttlichen Melodien durchdrungen ist, die an Saiteninstrumente – Kingri, einsaitiges Instrument – auf der Erde erinnern. Doch ist auch hier wieder jeder Vergleich und jede Übereinstimmung gänzlich unzutreffend, denn die Töne der Musik auf unserer physischen Ebene können keineswegs mit der Erhabenheit der Ewigen Musik, des Anhad Shabd, gleichgestellt werden, die in diesem hohen Reich endlos erklingt.

Guru Nanak traf einst einige Yogis, welche die Kingri spielten und sagte zu ihnen:

Dies ist nicht die Kingri, welche eure Kontemplation vertiefen wird. Spielt auf der Kingri, o Sadhus, welche ein Teil des Anahat Shabd ist, die ungespielte Musik, und welche euch vereint mit Gott.

Der Klang der Kingri kommt vom Himmel. Es ist nicht der Klang eines jeglichen weltlichen Instrumentes.

Khwaja Hafiz

In allen Herzen erklingt die Musik der Laute, ihre Töne beschwingen Nacht und Tag; äußerst selten sind jene, welche sich an diesen erfreuen; zügele das Gemüt, und durch die Gnade des Gurus sei erleuchtet.

Guru Nanak

Der Spirituelle See von Amritsar ist auch als Tribeni bekannt, die Vereinigung von drei Flüssen Spiritueller Energie. Diese drei kosmischen Ströme von Liebe, Licht und Kraft kommen von dem Höchsten Herrn herab, um das Universum der Universen zu erhalten und zu stützen.

Das äußere Tribeni, welches eine Kreuzung der drei heiligen Flüsse ist, dem Ganges, Jumna und Saraswati, ist auch nur symbolisch für das Innere Tribeni. Der wirkliche Fluss, die Spirituellen Ströme der Kraft sind im Innern und so auch Amritsar.

Die Weisen der Vergangenheit sahen diese Dinge im Innern und benannten die äußeren Erscheinungen nach ihnen, lediglich um uns anzuweisen. Es ist nur das Innere Tribeni, ebenso wie das Innere Amritsar, das die Seele reinigt von ihren Karmas. Nachdem sie hier badete, wird die Seele amar oder unsterblich und hat sich nicht zu reinkarnieren.

Das ist der Wahre Schrein der Heiligkeit, wo die höher strebende Seele makellos und unsterblich wird, nachdem sie ihr Reinigungsbad genommen hat. Sie hat nun ihre kausalen, astralen und physischen Umhüllungen überstiegen, und es haften ihr keine Eigenschaften der drei unteren Regionen von Gemüt und Materie mehr an.

Die unbefleckte Seele erscheint nun strahlend und leuchtend im Licht von zwölf Sonnen. Sie braucht nicht nochmals in den unteren Ebenen wiedergeboren zu werden, wenn sie nicht vom Höchsten Herrn Selbst damit beauftragt wird. Sie hat den Nektar der unvergleichlichen Musik – Amrit – gekostet und besitzt vollkommenen Einblick in die Wahre Natur der Schöpfung.

Im Reich von Daswan Dwar erkennt die befreite Seele nun völlig, dass sie dem Wesen nach Liebe ist, wie der Höchste Herr der Liebe Selbst.

Wer hierher gelangt, wird ein Sadh genannt.

Ein Sadh ist, wer über die Region von Trikuti – Onkar – hinausgelangte, die gleichbedeutend ist mit Lahut in der Terminologie der Sufis, und mit Hu in der Theologie des Islam. Er hat den Geist in seiner ursprünglichen Glorie bezeugt, nachdem er ihn von allen Umhüllungen befreit hat und ist nun Trigunatit – jenseits der drei Gunas: Satva, Rajas und Tamas, worin alle Menschen ihren natürlichen und angeborenen Instinkten entsprechend handeln; jenseits der fünf Elemente – Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther, aus denen die physische Welt zusammengesetzt ist; jenseits der 25 Prakritis – die subtilen Formen, in variierenden Anteilsgraden der Elemente, und auch jenseits von Gemüt und Materie.

Er ist, kurz gesagt, ein Adept in der Selbsterkenntnis oder der Kunst und Wissenschaft des Geistes, und kann nach Belieben den Geist von den verschiedenen Koshas – Hüllen oder Schatullen –, in die er wie ein unschätzbares Juwel eingeschlossen ist, befreien.

Die Größe eines Sadh liegt jenseits der drei Gunas – da er Trigunatit ist.

Durch den Prozess der Selbstanalyse hat er – ein Sadh – das Selbst oder den Geist in seiner Wahren Form erkannt, nämlich, dass er von derselben Essenz wie Gott ist, und er strebt nun nach Gotterkenntnis.

Gottmensch (Übersetzung aus der englischsprachigen Erstedition, 1967) –
III. Stufen der Meisterschaft,
von Kirpal Singh, 1894–1974

Die Seele weiß jetzt wirklich, wo der Höchste Herr wohnt, und ihr erhabenster Wunsch ist die gänzliche Vereinigung mit Ihm.

Über diesen Zustand des Bewusstseins haben die Adepten der Mystik erklärt, dass niemand ein Wahrer Theist ist, solange er nicht dieses Wesen Gottes in sich selbst erkannt hat.

Bis sich diese Große Verwirklichung vollzieht, verlässt sich der Aspirant auf die Aussagen der Heiligen und Weisen.

Ein solches Zeugnis ist in den meisten Schriften der Welt aufgezeichnet worden, aber das Lesen Heiliger Bücher – so wünschenswert es auch in vieler Hinsicht ist – kann dem einzelnen niemals eine bewusste Erfahrung und das Gewahrsein des Höchsten Herrn im Innern gewähren.

Sich auf die äußeren spirituellen Praktiken beziehend und sie mit dem Inneren Suchen vergleichend, sagt Guru Nanak:

Pilgerfahrten, Barmherzigkeit, Nächstenliebe und Almosengeben hören auf, von Bedeutung zu sein, wenn man Zugang zu Til, dem Inneren Auge1, erlangt. Die Verbindung mit dem Heiligen Wort und seine Praxis mit hingebungsvollem Herzen bewirken den Zutritt zu den Inneren Spirituellen Bereichen und waschen den Schmutz der Sünden an der Heiligen Quelle2 ab. […]

Jap Ji, Strophe 21

Wenn die Seele in der Heiligen Quelle Innen, dem See von Amritsar, gebadet hat, schließt sie sich anderen reinen Seelen an, die aus der esoterischen Literatur als Hansas, Schwäne, bekannt sind, und erfreut sich der wundervollen und bezaubernden Schönheit dieses Bereiches.

Der neunte Lotus ist in Daswan Dwar. Par Brahm lebt dort unnahbar.

Soami Ji

Dann erhebt sich die Seele zu den höheren Ebenen von Daswan Dwar und erblickt auf einer bestimmten Stufe zu ihrer Rechten das unvorstellbare Inselkönigreich – Achit Dip – mit seiner leuchtenden Form eines zwölf-blättrigen Lotos und sieht zu ihrer Linken die wonnevolle Region – Sahaj Dip –, die sich wie ein großartig aufgebauter zehn-blättriger Lotos zeigt.

Dann erreicht die Seele den ersten Durchgang zu dem furchteinflößenden Tibar-Khand oder Maha-Sunn, der Region der Dunkelheit.

Am Zugang zu Maha-Sunn wird der Seele das Höchste esoterische Wissen über die Schöpfung zuteil. Dieses Wissen wird nur auf dieser hohen Spirituellen Ebene vermittelt und es kann niemals durch gesprochene oder geschriebene Worte auf den niederen Schöpfungsebenen bekannt gegeben werden.

Hat die Seele dieses Wissen in sich aufgenommen, beginnt sie ihren Weg in Begleitung des Adepten der Mystik durch das große Maha-Sunn, eine weite Leere unsagbarer Dunkelheit.

Genau wie Fisch gezogen wird mit dem Angelhaken so wird die Seele durch Maha-Sunn gebracht – durch die Kraft des Satgurus eigener Aufmerksamkeit.

Tulsi Sahib

Nur durch das Aufgehen der eigenen Seele zieht der Satguru den Schüler jenseits der Grenze von Geburt und Wiedergeburt

Guru Nanak

Wenn die Seele Maha-Sunn erreicht, – der Satguru ist dort, um dich zu begleiten –,  nimmt Er dich hinüber.

Soami Ji

In dieser niederdrückenden Region hat Maha-Kal, die höchste Form der Negativen – bindenden Kraft –, der strebenden Seele eine Milliarde abschreckender Hindernisse in den Weg gestellt. Nur die Seele, die diese schwarze Leere mit der Hilfe eines Adepten der Mystik einmal durchquert hat, kann Maha-Sunn von da ab frei durchschreiten. Zahllose Seelen, jede mit der Helligkeit von zwölf Sonnen strahlend, leben in dieser Region, aber sie sind nicht im Stande, sich aus dieser Gebundenheit zu befreien; denn obwohl die Seele eine so große Strahlung hat, wird sie durch die höllische Dunkelheit überwältigt und kann die schwarze Leere nicht ohne die gütige Gnade und den Schutz eines Adepten der Mystik Höchster Ordnung durchdringen.

Bevor die Seele ihre Reise durch Maha-Sunn beginnt, erfährt sie von der Existenz von vier Spirituellen Regionen, die nicht in den äußeren Lehren der Adepten der Mystik erwähnt werden. Diese Regionen sind die Ebenen der höchsten Spirituellen Gefangenen, die in der östlichen Terminologie als Bandivan bekannt sind. Diese Gefangenen sind in ihren jeweiligen Bereichen keinem Zwang unterworfen, aber sie können nicht über diese hinausgelangen.

Manche von ihnen sehen manchmal eine Seele, welche in Begleitung eines Adepten der Mystik aufsteigt und sie flehen die Seele an, für sie einzutreten, damit auch sie sich zu den höheren Spirituellen Bereichen erheben können. Nur der Adept der Mystik kann einer solchen Bitte zustimmen, wenn Er es für richtig hält, denn Er ist ein unentbehrlicher Führer für die Seele, wenn sie sicher durch die ausgedehnte dunkle Leere von Maha-Sunn reisen will. Jenseits der Region von Maha-Sunn gibt es fünf gewaltige Spirituelle Bereiche, die jeweils an Bedeutung zunehmen, wenn sich die Seele erhebt.

Die unterste ist Bhanwar Gupha – oder die sich drehende Höhlung –, die letzte Region, bevor die Seele ins Reich des Höchsten Herrn, die Wahre Heimat des Geistes, gelangt. Während sich die Seele dieser unaussprechlichen Region von Bhanwar Gupha nähert, hört sie die Melodie von vier Tonströmen, von denen jeder aus einer unsichtbaren Quelle kommt. Eine dieser kosmischen Melodien übertönt alle anderen und die Seele empfindet ihre Weisen unbeschreiblich und unaussprechlich schön.

Die Seele erblickt auch fünf eiförmige Universen, die alle Makrokosmen anderer kosmischer Schöpfungen sind. Jedes dieser kosmischen Systeme besitzt eine vorherrschende Farbe wie gelb oder grün und wird von einem großen Geist gleich Brahm durchdrungen und regiert.

Im Vergleich mit diesen Regionen erscheint das ganze Universum unterhalb des Bereiches der Kausalität so unbedeutend wie ein Staubkorn.

Du durchdringst die ungeheure Weite und auch das Jenseits, denn all das ist Deine Offenbarung. Nanak betet: Gewähre mir die Gemeinschaft mit den Heiligen – das Schiff, um das Meer des Lebens und des Todes zu überqueren.

Guru Granth Sahib

_______________

Quellenhinweis: Dieses Kapitel basiert auf dem Text ‚Der Weg durch die Überkausalen Reiche‘, von Dr. George Arnsby Jones, veröffentlicht in der deutschsprachigen Ausgabe von Sat Sandesh / Mai–Juni 1977. Weiterführende Zitate und Einfügungen erfolgten durch den Herausgeber.

Erläuterung: 1) Til bedeutet wörtlich ‚das Senfkorn‘. Hier wird es jedoch gebraucht für das Nervenzentrum zwischen und hinter den beiden Augen. Die Hindus nennen es Shiv Netra oder das Dritte Auge. Im Evangelium wird es das Einfältige Auge genannt. Die Sufis sagen Nukta-i-Sweda. Es ist der Sitz der Seele im Menschen, und es ist die erste Stufe, auf der sich die Seele sammelt und fähig wird, sich in höhere Spirituelle Bereiche zu erheben.

Guru Ram Das sagt in diesem Zusammenhang:

Das Gemüt schweift jede Sekunde ab, solange es Til nicht erreicht hat.

Bhai Gurdas hat eine wundervolle Beschreibung davon in seinen Kabits und Swaiyas Nr. 140, 141, 213, 265, 269, 270 und 294 gegeben. Auch Kabir hat in Seinen Versen auf Til Bezug genommen. Tulsi Sahib sagt, dass das Mysterium Gottes erst enthüllt wird, wenn man über Til hinausgeht.

2) Die Heilige Quelle des Nektars ist Amrit-saar oder Amritsar, im Menschen. Man darf diese nicht verwechseln mit dem Amritsar, der heiligen Quelle, die von Guru Ram Das, dem vierten Guru der Sikhs, erschlossen und von Guru Arjan Dev, dem fünften Guru, fertig gestellt wurde. Die Heilige Quelle, auf die Guru Nanak hier verweist, liegt in der dritten Spirituellen Ebene, die Daswan Dwar benannt ist. Die Mohammedaner nennen sie Hauz-i-Kausar und die Hindus Prag-Raj. Hier erhält die Pilgerseele ihre wirkliche Taufe, wird von allen Unreinheiten befreit und erlangt ihre ursprüngliche Reinheit wieder.