Betrachte dich als sehr begünstigt

1. Januar 1913

Meine liebe Tochter,

dein liebevoller Brief hat mir große Freude bereitet. Meine Freude war um so größer, als ich hörte, dass du den Anweisungen uneingeschränktes Vertrauen entgegenbringst und mit Liebe und Hingabe daran arbeitest, die Innere Wahrheit zu erlangen. Betrachte dich als sehr begünstigt, dass dir der Allmächtige die menschliche Gestalt gegeben hat und dir dann in Seiner Gnade den einzigen Pfad offenbart hat, auf dem Seine Wohnstatt zu erreichen ist. Wenn du deine Aufmerksamkeit nur ein paar Sekunden auf die Menschen dieser Welt richtest, wirst du sehen, dass sie die Ewige Glückseligkeit um sehr gewöhnlicher und vergänglicher Dinge willen opfern. Einige sind von Reichtum und Macht berauscht, während andere gegen Armut und Not kämpfen. Vom Prinzen bis zum Bauern sind alle von der Welt und ihren Sorgen gefangen genommen. Niemand denkt daran, dass er eines Tages gehen muss. Daher weiß keiner, wo er hergekommen ist, warum er kam, wohin er geht und was er am besten tun sollte. Alle betrachten diese Welt als ihren ständigen Aufenthaltsort. Wenn es irgendwo einen Sucher nach der Wahrheit gibt, wird dieser, da er keine Spirituellen Erfahrungen hat, unglücklicherweise durch selbstsüchtige Menschen auf Wege geführt, die ihn seinem Ziel nicht wirklich näher bringen können.

Manche hoffen auf zukünftiges Glück im Paradies, andere auf mehr Glück in dieser Welt, und das alles hängt nur davon ab, welche Form von Gottesdienst sie besuchen. Doch der Wahre Kompetente Meister verkündet mit lauter Stimme, dass niemand nach dem Tod Erlösung erlangen kann, wenn er nicht

  1. sein Gemüt und die Sinne während des Lebens unter Kontrolle gebracht hat und

  2. den Meister nicht zu Lebzeiten gesehen hat.

Es besteht kein Zweifel, der Pfad der Heiligen ist der schwierigste und engste, aber Heilige führen keine Seele in die Irre. Sie haben in aller Einfachheit deutlich erklärt, dass

  1. Wahres Wissen unmöglich zu erlangen ist, ehe nicht der Geist von der
    Materie befreit wird und

  2. dass es ohne Wahres Wissen keine Erlösung gibt.

Die Seele ist ein kleines Teilchen des Allmächtigen, und sie ist das belebende Prinzip in unserem Körper, wogegen die fünf Tattwas (Luft, Wasser, Erde, Feuer und Äther), die drei Gunas (Eigenschaften der Materie), die Sinnesorgane, das Gemüt und die Materie alle unbelebt sind. Bis eine Seele ihr lebendiges Selbst im Körper durch die Gnade eines Vollendeten Meisters und durch die Kraft ihrer Hingabe verwirklicht hat, ist sie den Versuchungen von Gemüt und Materie mehr oder weniger unterworfen; und das ist der Grund, warum Freud und Leid nicht von ihr weichen. Deshalb ist es wichtig, sorgfältig auf sich selbst zu achten. Erwecke deinen Verstand durch Überlegung und Ergebenheit, und bemühe dich, deine Sinne zu beherrschen. Es ist ohne Zweifel schwer, aber es ist der einzige Schlüssel zum Erfolg. Bedenke, dass wir nur kurze Zeit hier sind, und dass am Ende auch der Körper nicht mehr bei uns ist. Was können wir also dann von anderen Menschen in dieser Welt erwarten? Denke an den Tod – was für ein betrüblicher und furchteinflößender Vorgang er ist. Zu jener Zeit werden uns weder Freunde, noch unsere Stellung in der Welt von Hilfe sein. Nur das „Wort“ und unser Meister werden uns beistehen. Beginne darum jetzt, dich auf dieses Geschehen vorzubereiten, damit du zur Zeit des Gerichts als nicht zu leicht befunden wirst.

Die Wünsche haben die Seele erniedrigt. Wenn wir etwas wollen, und der Wunsch nicht erfüllt wird, empfinden wir Schmerz. Gib darum deine Wünsche unverzüglich auf, und gewöhne dich daran, den Geboten des Meisters zu folgen. Das Gemüt ist ein Sklave der Gewohnheit und wird dadurch gewaltsam vom rechten Weg abgebracht. Finde selbst heraus, welche Gewohnheiten für dich Hindernisse auf dem Weg zur Wahrheit sind. Befreie dich nach und nach von ihnen, und setze gute Gewohnheiten an deren Stelle. Ärger sollte z.B. der Ruhe, Habsucht der Zufriedenheit weichen, usw. Wenn man sich ständig bemüht, wird das Gemüt die schlechten Gewohnheiten schließlich aufgeben. Denke aber daran, dass die bloße Theorie nicht hilft, wenn sie nicht in die Tat umgesetzt wird. Das Gemüt ist sehr mächtig. Während man überlegt, macht es Versprechungen, aber hält sich nicht daran, wenn sich eine Gelegenheit bietet. Auf die Schnelle lässt sich das Gemüt jedoch nicht beherrschen, dazu braucht man jahrelange Geduld und Ausdauer. Solange es nicht anfängt, an der Inneren Musik Gefallen zu finden, kann es nicht anders, als weltlichen Freuden nachzujagen. Richte dein Gemüt auf die Übungen aus, mit Liebe, Anteilnahme und ohne falsche Vorstellungen, dann wirst du eines Tages das Gemüt und die Sinne völlig beherrschen, was ein großer Segen sein wird.

Was das Zittern in der Mitte deiner Augen während der Meditationsübung angeht, so brauchst du dir deswegen keine Sorgen machen. Am Anfang kommt das öfter vor. Du solltest deine Aufmerksamkeit auf den Inneren Ton, der von oben kommt, konzentrieren, übe dabei keinen Druck auf deine Augen aus, und versuche nicht, die Pupillen nach innen zu drehen. Bemühe dich lediglich darum, dass deine Seele mit dem Heiligen Ton verbunden bleibt.

Da es anfangs völlig ungewohnt ist, Innen zu sehen, entsteht eine Verspannung, die zu diesem Zittern führt. Dabei gibt es aber nichts zu befürchten. Nach einiger Zeit drehen sich die Pupillen von selbst wieder zurück. Übe während der Kontemplation keinen Druck auf die Augen aus, führe sie durch, als ob du dir ein wohlbekanntes Bild ins Gedächtnis rufen willst. Kontemplation ist ein sehr wichtiger Faktor, und man sollte sorgfältig darauf achten, sie richtig auszuüben. Du schreibst, dass du nicht das Licht einer Kerze sehen kannst. Genauso ist es. Aber wenn du dich ein wenig bemühst, wird es dir möglich sein.

Wenn du den Glockenton klar von rechts zu hören beginnst, kannst du den Simran aufgeben und deine Seele wieder mit dem Ton verbinden. Manchmal hört man Donner während der Übungen. Erschrecke nicht davor. Das kommt einfach daher, dass die Seele unmittelbar aufsteigen und den Körper zurücklassen will. Aber der Körper will sie nicht loslassen. Die Seele ist bereit, aber der Körper nicht.

Und wenn dir auf dem Weg nach Innen irgendein Hindernis oder eine Gefahr begegnet, wiederhole die Heiligen Namen – und sie wird sofort verschwinden. Solche Gefahren sind lediglich Schöpfungen unseres Gemüts, um die Seele in die Irre zu führen. Aber wenn du denkst, dass sich etwas durch Simran verschlechtert hat, dann sei unbesorgt – es ist zu deinem besten.

Ich freue mich sehr zu hören, dass du nicht mehr Fleisch für deine Gäste kochen musst, und dass auch sie dir in dieser Hinsicht keine Schwierigkeiten machen. Du hast ganz recht, wenn du sagst, dass sich die Umstände der Absicht anpassen werden, wenn man sich erst einmal entschlossen hat, etwas Bestimmtes zu tun. Wenn wir uns daher entschließen, auch andere schlechte Gewohnheiten als Fleischessen aufzugeben, so ist das ganz und gar nicht schwierig. Es ist nur ein wenig Willenskraft erforderlich.

Was deinen Roman angeht, so magst du ihn zu Ende schreiben. Aber denke in Zukunft nie mehr daran, so etwas zu schreiben, weil dabei unsere wertvollen Gedanken nach außen gehen und keinem guten Zweck dienen; wenn man sie aber bei sich bewahrt, führen sie zu großen, nützlichen Ergebnissen. Darüber hinaus ist sehr viel Mühe einfach umsonst, wenn wir nicht nach den Grundsätzen handeln, die wir in unseren Büchern für andere darlegen. Jeder kann mit Hilfe vieler Bücher und dessen, was er von anderen gehört hat, eine Menge schreiben. Aber was nützt das dem Schreiber? Was nützt es dem Blinden, wenn er eine Lampe anzündet? Er verschwendet nur seine Zeit. Bewahre deine Kraft soweit wie möglich, und erfreue dich ihrer Frucht. Doch schreiben schadet nichts, wenn die Seele eine Stufe erreicht hat, von der sie vom Gemüt nicht mehr heruntergezogen werden kann, und wenn der Meister die Seele zum Wohl der Allgemeinheit damit beauftragt. Manche neigen dazu, alles als tugendhaft anzusehen, was einer zum Nutzen anderer tut, ohne dafür einen Lohn zu erhoffen. Aber ich glaube das nicht. Wie kann jemand anderen helfen, wenn er selbst hilflos ist? Wer selbst Sklave des Gemüts ist, kann doch andere nicht aus ihrer Sklaverei befreien. Kann ein Schlafender andere wecken? Er tut besser daran, erst einmal selbst zu erwachen.

Obwohl das Gemüt sagt, es habe kein Verlangen nach weltlicher Größe und Ansehen, so fängt es doch an, sich für etwas Besseres, für höher gestellt zu halten, wenn sich ihm Ehre und Reichtum bieten. Aber auf dem Weg von Sant Mat muss man sich als Demütigster und Niedrigster von allen betrachten. Wie der Reichtum dieser Welt durch Diebe und Räuber in Gefahr ist, so kommt auch der Spirituelle Reichtum leicht durch Diebe abhanden. Diese Diebe kommen nicht von irgendwo außerhalb, sondern liegen in unserem Körper verborgen. Ich habe dir alles gesagt, was diese Sache betrifft; da du aber den Wunsch hast, diese Arbeit fertigzustellen, erlaube ich es dir. Doch in Zukunft sollte sich dir dieser Gedanke nicht mehr hinderlich in den Weg stellen.

In deinen Briefen kannst du jede Frage über die Spirituelle Reise stellen. Solche Fragen kommen niemals ungelegen. In diesem Werk bin ich Sein Diener, und es ist meine bescheidene Pflicht – die mir der Herr auferlegt hat – Seinen Kindern in dieser Angelegenheit zu helfen. Die Seele, die nach den Geboten des Meisters lebt, und sich mit Liebe und Vertrauen regelmäßig dem Bhajan hingibt, leistet ihm eine Art von Dienst. Denn der Meister hat die Bürde auf sich genommen, alle Seelen, denen Er seinen Pfad offenbarte, zur Wohnstatt des Vaters zu führen. Wenn also eine Seele schnell dorthin gelangen will, erleichtert das die Bürde des Meisters.

Zum Schluss möchte ich dir noch raten, deine Zeit als sehr wertvoll anzusehen, und die Zeitspanne der Hingabe weiter auszudehnen. Ziehe mit vollem Glauben an den Meister wirklichen Nutzen aus Seinen Gaben. Er ist immer bei uns, und wir wissen nicht, auf welche mannigfaltige Weise Er uns hilft.

Ich achte deine tägliche Arbeit. Wer seinen weltlichen Pflichten auf die rechte Weise nachkommt, kann auch seine Spirituelle Pflicht erfüllen. Träge und arbeitsscheue Menschen können dagegen den Bhajan nicht nutzen.

Mit herzlichen Grüßen

Sawan Singh