Gute Taten, wie Werke der Barmherzigkeit und Nächstenliebe, haben, obgleich sie an sich lobenswert sind, keinen bedeutsamen Einfluss auf das Höchste Spirituelle Ziel. Sie hören auf, von Wichtigkeit zu sein, wenn die Seele einmal ihre Innere Reise von Til oder dem Inneren Auge aus beginnt:

Wenn dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer Leib Licht sein.

Matthäus 6:22

Vom Strom des Wortes getragen, erreicht die Seele Amrit-saar oder Amritsar, die Quelle des Nektars, oder das Amritsar im Menschen. Dort werden alle Unreinheiten, die der Seele noch anhaften, endgültig weggewaschen. So wird sie für die Weiterreise zur Höchsten Spirituellen Ebene – Sat Naam – befähigt, die von unaussprechlicher Erhabenheit und Herrlichkeit ist.

Strophe XXI

Pilgerfahrten, Barmherzigkeit, Nächstenliebe und Almosengeben hören auf, von Bedeutung zu sein, wenn man Zugang zu Til, dem Inneren Auge1, erlangt. Die Verbindung mit dem Heiligen Wort und seine Praxis mit hingebungsvollem Herzen bewirken den Zutritt zu den Inneren Spirituellen Bereichen und waschen den Schmutz der Sünden an der Heiligen Quelle2 ab. Alle Tugenden sind Dein, o Herr; ich besitze nicht eine. Ohne die Praxis des Heiligen Wortes kann es keine Verehrung geben. Von Dir ist Bani, das Heilige Wort ausgegangen, welches der Pfad zur Erlösung ist. Du bist die Wahrheit3, bezaubernd süß, und mein Geist verlangt nach Dir. Bei welcher Gelegenheit, in welcher Epoche, zu welcher Woche, an welchem Tag, zu welcher Jahreszeit, zu welcher Stunde war es, als Du zuerst ins Dasein tratest und Dir Selbst Ausdruck verliehen hast? Die Pandits konnten es nicht ermitteln, sonst würde es in den Puranas4 stehen; und auch die Kazis5 konnten es nicht bestimmen, sonst würde es im Koran zu finden sein; noch konnten es Yogis und andere verkünden. Der Schöpfer allein kennt die Stunde, zu der Er in Erscheinung trat. Wie soll ich mich an Dich wenden, wie Dich preisen, o mein Herr? Wie soll ich Dich beschreiben, wie Dich erkennen? O Nanak, alle sprechen von Dir, und einer klüger als der andere. Groß bist Du und noch größer ist Dein Heiliges Wort. Was Es will, geschieht. Du allein kennst Deine Größe. Und jene, o Nanak, die vorgeben, das meiste zu wissen, erfahren keine Ehre im jenseitigen Leben.

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Erläuterung: 1) Til bedeutet wörtlich ‚das Senfkorn‘. Hier wird es jedoch gebraucht für das Nervenzentrum zwischen und hinter den beiden Augen. Die Hindus nennen es Shiv Netra oder das Dritte Auge. Im Evangelium wird es das Einfältige Auge genannt. Die Sufis sagen Nukta-i-Sweda. Es ist der Sitz der Seele im Menschen, und es ist die erste Stufe, auf der sich die Seele sammelt und fähig wird, sich in höhere Spirituelle Bereiche zu erheben. Guru Ram Das sagt in diesem Zusammenhang: ‚Das Gemüt schweift jede Sekunde ab, solange es Til nicht erreicht hat.‘ Bhai Gurdas hat eine wundervolle Beschreibung davon in seinen Kabits und Swaiyas Nr. 140, 141, 213, 265, 269, 270 und 294 gegeben. Auch Kabir hat in Seinen Versen auf Til Bezug genommen. Tulsi Sahib sagt, dass das Mysterium Gottes erst enthüllt wird, wenn man über Til hinausgeht. 2) Die Heilige Quelle des Nektars ist Amrit-saar oder Amritsar, im Menschen. Man darf diese nicht verwechseln mit dem Amritsar, der heiligen Quelle, die von Guru Ram Das, dem vierten Guru der Sikhs, erschlossen und von Guru Arjan Dev, dem fünften Guru, fertig gestellt wurde. Die Heilige Quelle, auf die Guru Nanak hier verweist, liegt in der dritten Spirituellen Ebene, die Daswan Dwar benannt ist. Die Mohammedaner nennen sie Hauz-i-Kausar und die Hindus Prag-Raj. Hier erhält die Pilgerseele ihre wirkliche Taufe, wird von allen Unreinheiten befreit und erlangt ihre ursprüngliche Reinheit wieder. 3) Die Wahrheit oder Sat Naam wohnt in Sach Khand, welches die Höchste der fünf Spirituellen Ebenen ist, in der der Formlose Eine weilt. Dies wird in den Strophen, die sich den verschiedenen Ebenen zuwenden, am Schluss des Textes erklärt. 4) Pandits oder die Gelehrten, die in den Hinduschriften bewandert sind, wie den Veden und den Puranas – den uralten Abhandlungen. 5) Kazis oder gelehrte Moslems, die in der religiösen Gesetzgebung und Theologie bewandert sind.