Guru Nanak:
Sein Leben und Seine Lehren

Einleitung

Guru Nanak ist weder das alleinige Monopol der Sikhs noch von Indien allein. Er gehört der ganzen Menschheit an. Er gehört zur Welt und die Welt gehört zu Ihm. Er legte Zeugnis ab von der Glorie des Einen Gottes, der einen Bruderschaft, des einen Gesetzes, des Gesetzes von menschlicher Gemeinschaft und Liebe. Er kam, um alle Religionen und alle Glaubensrichtungen zu versöhnen. Er kam, um alle Schriften der Welt aufeinander abzustimmen. Er kam, um die alte Wahrheit in der Sprache des gewöhnlichen Menschen zu verkünden, die Eine Weisheit, die so beredt in den Lehren all der Propheten, der Apostel, der Weisen und Seher ist; und um zu zeigen, dass eine Flamme der Liebe in all den Tempeln und Schreinen und Sakramenten des Menschen leuchtete.

Die Liebe Gottes und die Liebe der Menschen waren der Kern der Botschaft von Guru Nanak. Wir müssen lernen, den Armen sanft, still und bescheiden zu dienen und für alle Heiligen der Vergangenheit Ehrfurcht zu haben. Dies ist die erste große Lehre des Guru. Als Er nach Multan ging, in das Land der Pirs und Fakire, sandten Ihm Letztere eine Schale, die von Milch überquoll, was bedeutete, dass der Ort schon voll heiliger Seelen sei und dass es kaum einen Platz für weitere gäbe. Nanak, Der die logische Folgerung des gemachten Angebots kannte, nahm einfach eine Jasminblüte und, sie auf die Oberfläche der Milch legend, sandte die Schale zurück, womit Er besagte, dass Er so leicht wie die Blume gleiten und ihnen allen Duft geben würde. Die Wahren Heiligen haben in der Regel mit niemandem Streit. Sie sprechen sanft und arbeiten still im Dienste Gottes und der Menschen.

Er reiste weit umher, ungleich irgendeinem anderen Propheten, der vor Ihm auf Erden weilte. Er unternahm vier lange und beschwerliche Reisen zu Fuß, von denen eine jede sich über mehrere Jahre erstreckte: die erste nach Norden und über die schneebedeckten Himalayas, wo Er die Lamas, die Sidhas und die Naths, die Tibetaner und die Chinesen traf, die zweite nach Osten in die heutigen Staaten der vereinigten Provinzen, nach Bengalen und Burma, die dritte nach Süden bis nach Sangla Dwip oder dem heutigen Ceylon (Sri Lanka) und die vierte zu den Ländern des Mittleren Ostens wie Belutschistan, Afghanistan, Persien, von Arabien bis nach Mekka und bis Jerusalem, Turkistan, Ägypten und in die Türkei. Diese Reisen dauerten gut 30 Jahre, zu einer Zeit, in der es noch keine ausreichenden Verkehrswege und keine nennenswerten Verkehrsmittel gab.

Die Lehren von Guru Nanak veränderten die Menschen auf verschiedene Art und Weise. Seine Lehren sind von großem Interesse heutzutage, wie sie es zu Seiner eigenen Zeit waren. Die im Entstehen begriffene Indische Republik bedarf Seiner Inspiration bei der Aufgabe der Neugliederung der Nation auf einer gesunden Grundlage, denn Indien strotzt noch vor vielen Problemen, und seine Freiheit ist noch weit davon entfernt, vollkommen zu sein.

Guru Nanak kam zu einem kritischen Zeitpunkt in der Geschichte Indiens. Das Land war durch Parteikämpfe zerrissen und geriet schnell in die Gewalt der Mogule. Wir bekommen einen Einblick in die chaotischen Zustände, die zu jener Zeit vorherrschten, aus den Worten keiner geringeren Autorität als der des Guru selbst:

Könige sind Schlächter. Sie behandeln ihre Untertanen mit schauerlicher Grausamkeit. Das Gefühl für Pflichten hat Flügel bekommen und ist verschwunden. Falschheit nimmt überhand und liegt über dem Land wie ein dichter Schleier von Dunkelheit, einer Dunkelheit, die schwärzer ist als die schwärzeste Nacht, und die das Antlitz des Mondes der Wahrheit verhüllt.

Hindus und Moslems bekämpften einander bitterlich. Das religiöse Leben war zu bloßem Formalismus herabgesunken, und der Geist der Menschen wurde unterdrückt und erstickt durch Riten und Rituale, durch Glaubensbekenntnisse und Zeremonien. Zu viel Bedeutung wurde der äußeren Schale und Hülle zugemessen auf Kosten des Kernes im Inneren. Kastengeist und Unberührbarkeit nahmen enorm zu.

Die Menschen verloren den Glauben an sich selbst. Die politischen und sozialen Bedingungen im Lande hatten die tiefste Ebene erreicht. Die chaotischen Zustände konnten nicht chaotischer sein. Im gesegneten Namen der Religion wurden alle Arten von Grausamkeiten durch die Machthabenden vollbracht, die ihrerseits eine Beute von Zügellosigkeit, Habgier, Lust und Unmoral waren. Misstrauen und Hass waren das Motto des Tages. Sowohl Herrscher als auch Beherrschte hatten alles Scham- und Anstandsgefühl verloren.

In solch einer dunklen Stunde der Geschichte erschien Nanak, um das Haus in Ordnung zu bringen und das Geschick von Millionen Indern zu formen. Er wanderte umher und predigte im Namen Gottes, ohne etwas für Sich zu erbitten, sondern nur darauf bedacht, den Menschen zu helfen und sie von Erniedrigung und völliger Verdammung zu erretten.

Nanak sah die tiefe Tragödie, die das Land bedrohte. Er sah die Welt in das verderbliche Netz von Leid und Elend verstrickt. Bewegt durch die kläglichen Rufe der hilflosen und leidenden Menschen in ihrer tiefen Not, betete Er um die Gnade Gottes:

O Gott, die ganze Welt wird von unsichtbaren Flammen verzehrt. O, rette die Welt in dieser Stunde der Finsternis. Erhebe alle zu Dir. Erhebe sie, wie und womit es Dir immer gefällt.

Als Er in Verbindung mit Babar, dem Mogul-König, kam, forderte Ihn der König auf, eine Gunst zu erbitten.

Der Guru lehnte das Angebot höflich, jedoch entschieden mit den Worten ab:

Höre, o König, töricht wäre der Fromme, der vom König etwas erbittet, denn Gott ist der einzige Geber, freigiebig über alle Maßen.

Bezeichnenderweise fügte Er hinzu:

Nanak hungert nach Gott allein und fragt nach nichts anderem.

Babar bekundete Achtung für alle frommen Menschen. Einmal kam ihm zu Ohren, dass Nanak hinter Gitter gesteckt worden war, und er befahl Seine sofortige Freilassung. Auf Ersuchen des Königs erteilte der Guru Seinen Rat in einer Schrift, genannt Nasishat Nama, in der Er dem König empfahl, Gott täglich zu verehren und gerecht und freundlich zu jedermann zu sein. Er sagte ihm, dass Naam, Sat Naam, das Heilige Wort Gottes oder Kalma, ein Heilmittel für alle Übel des Lebens hier und im Jenseits sei. Es sei Kalam-e-Kadim, der uralte Gesang Gottes, der in den Herzen aller erklingt und nur von den Reinen gehört werden könne.

„Sei rein“, sagte der Guru, „und die Wahrheit wird sich dir selbst offenbaren. Habe vor allem in deinem Herzen die Liebe zu Gott und verletze nicht die Gefühle Seiner Geschöpfe.“

Diese Große Seele, groß in der Demut und der Liebe zu Gott, fragte einmal einen Schullehrer: „Was haben Sie gelernt?“ Der Lehrer erwiderte: „Ich bin in allen Wissensgebieten bewandert. Ich habe die heiligen Lehren aller Religionen gelesen. Ich weiß eine ganze Menge über alles.“ Dann fragte Nanak den Lehrer demütig, was er tatsächlich damit gewonnen hätte.

In einer Strophe von erlesener Schönheit und Weisheit sang Nanak das Geheimnis wahrer Erziehung:

Verbrenne weltliche Gedanken und kehre die Asche zusammen, und von dieser Asche bereite deine Tinte und lass das Papier, auf dem du schreibst, das Papier des Glaubens sein, und schreibe den Namen Gottes.

Als Er zur Schule gebracht wurde, sagte Er zu Gopal Pandhe, Seinem Lehrer:

Lass durch die Schreibfeder dein Herz sprechen und mit der Feder der Liebe schreibe wieder und wieder den Namen des Herrn.

Das gegenwärtige Erziehungssystem in Indien ignoriert die wesentliche Aufforderung

„lass durch die Schreibfeder dein Herz sprechen“ und „bereite Tinte aus dem weltlichen Verstand“.

Weltliche Leistungen jeglicher Art sind nicht durch sich selbst genügend, wenn man Gott nicht kennt. Wir benötigen ein Erziehungssystem, das in seinem Lehrplan die ewigen Werte des Lebens einschließt. Stattdessen haben wir einen auf das Geschäftliche ausgerichteten Lehrplan mit Paukbüchern und leicht gemachten Texten, nur um uns Diplome und akademische Grade zu sichern und gute Posten zu erhalten. Die Anzahl der Schulen, Colleges und Universitäten hat in Indien und anderswo zugenommen, aber Moral und Charakter der so genannten gebildeten Leute ist nicht um einen Millimeter gewachsen.

Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme Schaden an seiner Seele?

Viele Demokratien haben versagt, aber die Demokratie kann leben, überleben und siegen, sofern zwei Bedingungen erfüllt werden:

  1. wenn Sektierertum und Fanatismus aufhören,

  2. wenn sich die Staaten vor einem höheren Gesetz in Achtung beugen, nämlich dem Gesetz der Gemeinschaft und menschlichen Sympathie und vor allem vor dem Unendlichen, dessen Stimme von Ewigkeit zu Ewigkeit erklingt:

Kinder der Erde, ihr seid alle Eins!

Nanak kam, um diese zweifache Wahrheit zu verkünden.

Wirkliche und dauernde Freiheit kann nicht ohne den Glauben an den Zusammenhalt und die Freiheit der Menschheit erreicht werden. Wie kann das geschehen?

Dadurch, dass:

  1. Glaube wichtiger ist als bloßes Buchwissen,

  2. Zusammenhalt mehr bedeutet als Reformpläne,

  3. Dienst an der Menschheit wichtiger ist als irgend etwas anderes.

Guru Nanak fand das grundlegende Heilmittel für wahren Zusammenhalt und Vereinigung des Menschen in der Liebe zu Gott und in der Liebe und dem Dienst für den Gott im Menschen.

Als Guru Nanak einmal aus einem Trance-Zustand im Wasser kam, erklärte Er:

Es gibt weder Hindu noch Moslem;

womit Er meinte, es gibt keinen wesentlichen Unterschied zwischen beiden.

Gott stattet den Menschen mit den gleichen Vorrechten überall auf der Welt aus. Alle werden gleich geboren. Sie kommen auf dieselbe Art und Weise in die Welt, nach einer bestimmten Periode der Schwangerschaft. Alle Menschen haben den selben äußeren und inneren Aufbau bezüglich der Glieder und verschiedener Werkzeuge und Organe, wie Hände und Füße, Lunge, Leber, Magen und dergleichen. Jeden Tag wirft die menschliche Maschinerie den Schmutz aus dem Körper. Zuerst ist man ein Mensch, und danach nimmt man das äußere Kennzeichen der einen oder anderen besonderen sozialen Ordnung oder Gruppierung an, in der man geboren und aufgezogen ist und diese nimmt man an und betrachtet sie als seine eigene: Hinduismus, Sikhismus, Islam oder Christentum, Buddhismus oder Jainismus oder irgendeinen anderen „Ismus“– und versucht das Geheimnis des Lebens zu lösen, ein jeder auf seine Weise.

Ein Mensch ist als erstes und letztes Mensch, außer allem Übrigen, was dazwischen liegt. Er gehört zu der umfassenden Religion mit dem Kennzeichen des Menschen, das sich auf Geburt und Umgebung gründet. Die ganze Menschheit besteht aus verkörperten Wesen wie viele Perlen auf der Schnur eines Rosenkranzes. Alle sind in der Sicht Gottes gleich und erfreuen sich gleichermaßen und frei an Gottes Gaben.

Niemand ist hoch oder niedrig allein durch Geburt. Weiterhin ist er eine Seele, eine Bewusste Wesenheit, die den ganzen Körper belebt. Diese Seele, ein Tropfen aus dem Meer der Allbewusstheit, ist von demselben Wesen wie das Gottes. Als solche sind wir alle Brüder und Schwestern in Gott, ohne Rücksicht auf unsere sozialen Kennzeichen. Weiterhin hält die gleiche Kraft, Naam oder das Wort oder Kalma, die gänzlich verschiedenen Bestandteile des Körpers in Ordnung und auch die Seele, wobei der Körper materiellen und die Seele geistigen Wesens ist.

Aufgrund dieser kontrollierenden Kraft können wir nicht aus dem wundervollen Körperhaus heraus, in dem wir leben, wie sehr wir uns auch bemühen mögen. Der hinausgehende Atem wird zurückgestoßen und kann nicht für beliebig lange Zeit außerhalb verbleiben. Unser Körper funktioniert, solange das Lebensprinzip im Körper ist. Dieser Vorgang geht weiter, solange die kontrollierende Kraft den Körper und das Lebensprinzip zusammenhält. Wenn sie zurückgezogen wird, muss der Geist in uns notgedrungen den Körper verlassen. So wird die ganze Maschinerie des Körpers durch den bewohnenden Geist – der wir sind – in Gang gehalten. Wenn wir lernen könnten, unseren Geist willentlich zurückzuziehen, während wir im Körper bleiben, könnten wir die Natur unseres Wahren Selbst erkennen, den belebenden Lebensimpuls in uns. Dies war die Lehre aller Rishis und Munis der Vorzeit und der Spirituellen Lehrer des Ostens und des Westens. Es ist alles eine Angelegenheit praktischer Selbstanalyse. Und es kann unmittelbar und sofort erlebt werden durch die aktive Hilfe und Führung eines Adepten oder eines Meisters des Para Vidya oder des Wissens vom Jenseits – des Wissens, das jenseits der Sinne, des Gemüts und des Verstandes liegt. Es ist eine regelrechte Wissenschaft der Seele, deren Kenntnis alles bekannt macht und die nichts unbekannt lässt. Wir können dann ein Herr in unserem eigenen Haus werden und sind fähig, es nach unserem Belieben zu lenken.

Dasselbe Naam, das Sat Naam, das Wort oder die sich zum Ausdruck bringende Gotteskraft, hält die ganze Schöpfung unter Kontrolle. Wenn es zurückgezogen wird, ist das Ergebnis die Auflösung oder die große Auflösung, wie der Fall gerade liegt.

Dieser Körper ist wahrlich der Tempel Gottes, in dem wir wohnen und in dem Gott ebenfalls wohnt. Das ganze Universum ist in die Wohnstatt Gottes und Gott wohnt darin. All dies kann auf der Ebene der Seele erfahren werden, mit der Gnade eines Kompetenten Spirituellen Führers oder Beraters. Solange wir nicht diese Einheit der Menschen wahrnehmen, physisch, mental und spirituell und aufgrund derselben kontrollierenden Kraft in uns allen, kann es keine wahre Einigkeit und keinen Zusammenhalt der Menschheit geben.