Letzte Tage

Der Tag kam, an dem Nanak von hier scheiden sollte. In Demut und Liebe verbeugte sich Nanak vor Seinem ergebenen Schüler Angad, der inzwischen ein Wahrer Teil Seiner Selbst geworden war, wie es der Name andeutet. Der Letztere war Eins im Geiste mit seinem Meister, und beide waren in Ihm zusammengeschmolzen.

Der Guru bat dann um seinen Segen und sang zur Stunde seines Scheidens ein Lied von Vijay oder Sieg und forderte alle, die um Ihn herum waren, auf, in das Lied mit einzustimmen.

Singt meine Kameraden, singt alle! Singt nun mein Hochzeitslied. Singt das Lied zu Seinem Ruhm. Möge ich ein Opfer für Ihn sein, den Geliebten. Der gesegnete Tag ist heraufgedämmert, die Stunde der Vollendung naht. Kommt, meine Kameraden, kommt! Und weiht mich mit eurem Segen. Schaut die Vereinigung der Braut mit dem Bräutigam.

Viele der Schüler vergossen bittere Tränen vor Sorge und Trauer. Mit tiefem Kummer in ihren Herzen fragten sie:

Du gehst und verlässt uns? Welche Riten sollen wir durchführen? Sollen wir nach dem Brauche die irdene Lampe entzünden, wenn Du von hier scheidest? Sollen wir Deine Asche und verkohlten Knochen dem heiligen Wasser des Ganges übergeben, entsprechend der vorherrschenden Sitte?

Auf all diese Fragen erwiderte der Guru kennzeichnend:

Ja, entzündet die Lampe! Die Lampe des Namens Gottes. Lasst mein Leichenbegräbnis die Erinnerung an den Namen Gottes sein. Wisst, dass Er, der Herr oben, meine Stütze ist, hier und im Jenseits. Singt den Namen Gottes! Das soll mir Ganges und Kashi sein. Lasst meine Seele im Wasser Seines Namens baden, denn das allein ist das Wahre Bad. Und bringt mir die Gnade Gottes dar. Und singt von der Herrlichkeit Gottes Tag und Nacht.

Die Hindu-Schüler fragten:

Sollen wir Deinen Körper verbrennen?

Und die Moslem-Schüler fragten:

Sollen wir Deinen Körper begraben?

Der Guru erwiderte:

Streitet nicht über meine Gebeine. Lasst die Hindus und Moslems Blumen bringen und an jede Seite meines Körpers legen. Und dann lasst jeden tun, was er mag. Aber seht zu, dass die Blumen frisch und grün bleiben.

Der Guru war der Begräbniszeremonie gegenüber gleichgültig, sei es Verbrennen oder Bestattung. Er forderte nur, dass die Blumen frisch und duftend bleiben sollten. Was waren es demnach für Blumen? – Die Blumen des Glaubens und der Liebe.

Es ist vergeblich, dass die Menschen nach dem Guru in einem Grab oder auf dem Einäscherungsplatz Ausschau halten. Der Lebende Guru ist immer in den Herzen derer, welche die Blumen des Glaubens und der Liebe frisch und duftend bewahren. Er kam für alle. Er lebte für alle. Seine Lehren bleiben für alle.

Er gründete keine neue Sekte. Er ehrte alle Religionen. Er achtete die Heiligen aller Zeiten und Orte. Er lehrte keinen neuen Glauben. Er predigte Liebe, Glauben und edle Taten. Für Ihn waren alle Menschen von Gott. In Hindus und in Moslems schaute Er die Vision Gottes im Menschen. In allen Völkern der Welt erblickte Er eine endlose Prozession der menschlichen Rasse. Für alle Länder und alle Menschen sang Er das Lied von Naam oder dem Heiligen Wort.

Nanak war der Prophet des Friedens und des guten Willens, der Harmonie und Einheit. Er war der Prophet des Lichtes und schenkte das Licht an alle, siebzig lange Jahre (1469–1539). Sein Werk liebevollen Dienstes für die Menschheit, als Offenbarung des Unoffenbarten, wurde durch Seinen Nachfolger tatkräftig fortgeführt. Guru Arjan, der fünfte in der Linie der Nachfolge Nanaks, fasste die Aussagen der Gurus in dem Heiligen Granth, der Bibel der Sikhs, zusammen; hierin eingeschlossen sind ebenso die Aussagen anderer Heiliger von anderen Religionen, die leicht zu diesem Zweck gesammelt werden konnten. Auf diese Art und Weise legte Er mit diesem Buch die Grundlage einer großen Festhalle, worin Er eine große Auswahl und delikate Speisen von Göttlicher Weisheit anbot, die uns durch die Zeiten überliefert sind. In gewisser Weise dient dies als ein Beispiel für die Weltgemeinschaft der Religionen.

Liebe kennt keine Belohnung. Sie ist ein Lohn in sich selbst. Dienst und Opfer kennzeichnen die Liebe. Die beiden letzten Gurus, Guru Teg Bahadur und Guru Gobind Singh, opferten im Dienst der Menschheit alles aus Liebe zu Gott

Das höchste Ziel aller Religionen ist, Gott zu sehen, und das könnt ihr nur im menschlichen Körper, nirgendwo sonst.

Es ist eine Sache des Sehens nicht des Empfindens oder Fühlens oder der Schlüsse, die wir ziehen, denn das alles unterliegt dem Irrtum. Sehen steht über allem. Wir sind gesegnet, den menschlichen Körper zu haben.

Zu dem Zweck, Gott zu sehen, haben wir uns so vielen Schulen des Denkens angeschlossen, aber wo stehen wir? Das ist der springende Punkt.

So – wir müssen den besten Gebrauch vom menschlichen Körper machen, den wir mit der Gnade Gottes erhalten haben. Wenn ein Tier, dessen Kopf Gott nach unten gerichtet hat, sich beständig mit den niedrigen Freuden befasst, ist das in Ordnung. Ihr aber seid schließlich Mensch – blickt nach oben!

Kirpal Singh