III / (ii)

Der Pfad der Befreiung

Wie kann man zu diesen geistigen Höhen gelangen? Gleich Kabir, Guru Nanak und Soami Ji hat Baba Ji immer wieder nachdrücklich erklärt, dass äußere Praktiken von geringem Nutzen sind. Das Lesen der Schriften kann ein Interesse für die Spiritualität wecken, nicht aber an sich schon Befreiung sichern. Mystische Literatur und religiöses Ritual sind in vieler Hinsicht nützlich: Sie halten im Menschen das Bewusstsein aufrecht, dass es eine tiefere Wirklichkeit gibt als die im alltäglichen Leben gewohnte.

Aber dieser Wirklichkeit muss man durch praktische Wege näher kommen; sich in verstandesmäßige Probleme und Streitgespräche zu verlieren zieht nur die Kräfte vom wirklichen Pfad ab.

Khasam na chinae bawri, ka karat barai, Batan bhagat na hohingay, chhoado chaturai.

O Mensch, warum prahlst du mit deiner Größe, wenn du den Allmächtigen nicht erkannt hast? Gib deine intellektuellen Spitzfindigkeiten auf.

Kabir

Sakhi Shabd Sandesh parh mat bhoolo bhai, Sant mata kuchh aur hai, khoja so pai.

Täusche dich nicht, indem du dich nur auf das Lesen und Verfassen von Schriften beschränkst. Der Pfad der Meister ist anders. Wer ihn wirklich erstrebt, der wird ihn finden.

Kabir

Auch der Teufel kann Schriften zitieren, und Baba Ji erklärte, dass religiöse Debatten und Auseinandersetzungen, Kastenstolz – Varnashram –, äußere Verehrung, Wallfahrten, bloßes Vortragen aus den Schriften, Hingabe an Persönlichkeiten, die früher lebten, und andere Handlungen oder Schulungen dieser Art alle eine große Täuschung seien, eine von Kal gestellte Falle, um die Seele in den Bereichen der Relativität festzuhalten.

In gleicher Weise sind die äußeren Kriyas oder traditionellen Yoga-Praktiken – Pranayama, die verschiedenen Mudras und Asanas – ungeeignet, um uns zu unserem wirklichen Ziel zu bringen. Wie Sein Leben immer wieder bezeugt, hatte Baba Ji große Achtung vor gottergebenen Menschen jeden Standes und jeder Glaubensrichtung, aber Er verlor nie das höchste Ideal des menschlichen Lebens aus den Augen und lebte nach der von Kabir verkündeten Einsicht:

Sadh hamarae sab barae apni apni thor, Shabd parkhu jo milae tis aagae sir mor.

Alle Heiligen sind der Verehrung würdig, aber ich verehre nur Einen, Der das Wort gemeistert hat.

Kabir

Er hatte in sehr frühen Jahren viele Yoga-Methoden erprobt, und immer wenn Er über dieses Thema sprach, tat Er es nicht auf der Grundlage akademischer Gelehrsamkeit, sondern als Einer, Der das, was Er sagt, aus eigener praktischer Erfahrung weiß. Seine Worte hatten Überzeugungskraft, denn sie waren frei von jeglicher Voreingenommenheit.

Er erklärte einfach, dass Er Selbst alle diese Wege erkundet und den Pfad von Sant Mat oder den Surat Shabd Yoga als den höchsten herausgefunden habe. Er wusste viel von den übernatürlichen Kräften zu sagen, die durch Yoga-Übungen zu erlangen waren, aber Sein einziger Prüfstein war: Führten sie zur Beherrschung des Gemüts durch Befreiung von der Tyrannei der Wünsche? Wenn ja, konnte man nichts gegen sie sagen, wenn aber nicht – wie es gewöhnlich der Fall war –, hatten sie kaum irgendeinen Nutzen. 

Als Er Sich 1894 in Murree aufhielt, ging Er in Beantwortung vieler Fragen, die Ihm Baba Sawan Singh Ji gestellt hatte, ausführlich auf das Thema des vergleichenden Yoga ein und legte schließlich dar, wie Kabir und Nanak das Beste von Ihren Vorgängern angenommen hatten, dass Sie weit höher auf dem mystischen Pfad vorgedrungen waren und eine Methode zur Einswerdung mit dem Formlosen Absoluten entwickelt hatten, die in jedermanns Reichweite lag. Er zitierte des Öfteren frühere Meister, um Seinen Standpunkt zu bekräftigen, und führte insbesondere an, was Sein eigener Großer Guru dazu gesagt hatte:

Sant Mata sab se bara yeh nische kar jan Sufi aur Vedanti donon neeche man, Sant Diwali nit karen Sat Lok ke mahin Aur mate sab Kal ke yun he dhur urain.

Der Pfad der Meister ist allen anderen weit überlegen; glaubt es in vollem Vertrauen. Sufismus und Vedanta können euch bis zu einer gewissen Stufe bringen, doch nicht bis an das Letzte Ziel. Die Heiligen leben für ewig in der Herrlichkeit des Höchsten. Allen anderen Glaubensrichtungen und Gemeinschaften gelingt es nicht, die Bereiche der Relativität zu übersteigen.

Sar Bachan, Versfassung

Was ist die Wissenschaft des Surat Shabd Yoga, welche die Krone mystischer Vollendung darstellt? Es ist der Pfad, sagt Baba Ji, der die wenigsten Mühen erfordert und sich am meisten lohnt, will man zur Quelle allen Lebens und Lichts zurückgelangen. Sein Geheimnis liegt in der Erkenntnis, dass der Weg des Aufstiegs derselbe sein muss wie der des Abstiegs, wenn die Seele wieder Eins werden soll mit dem Ursprung, von dem sie ausgegangen ist. Als der Namenlose Namen und Form annahm, offenbarte Er Sich in Shabd, Naam, Kalma oder dem Wort. Dieser Spirituelle Strom, dessen erste Attribute Musik und Strahlung waren, ist für die ganze Schöpfung verantwortlich.

In einem Brief vom 21. April 1903 schreibt Baba Ji:

Alles hat sich durch Shabd offenbart – Ishwar (Gott als der Erhalter der Welt), Jiva (die individuelle Seele), Maya (das Feinstoffliche und das Grobstoffliche) und Brahmand (die physische, astrale und kausale Ebene) – durch seine Bewegung kam alles ins Sein.

Alle Weisen haben, wenn auch nach ihrer jeweiligen Art verschieden, vom Wirken des Wortes oder der Kraft von Naam Zeugnis abgelegt:

Kun kae kehnae sae hoowa alam bapa.

Durch den Ausdruck des Wortes kamen alle Dinge ins Sein.

Ebenso heißt es:

Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.

Johannes 1:1

Was die Meister des Surat Shabd Yoga über dieses Thema sagten, war nichts Neues. Sie legten nur besonderen Nachdruck auf den Gedanken, dass Shabd, wenn durch sein Wirken alles – selbst der Jiva Atman – offenbart wurde, das beste und einzige Mittel ist, um unseren Ausgangspunkt – Nirankar, Nirgun, Anami und das Absolute – wiederzuerlangen.

Die Musik und die Glorie des Wortes breiten sich in der ganzen Schöpfung aus und durchdringen unser Sein. Wenn der Atman nur mit Ihm verbunden werden könnte, wäre er im Stande, durch dieses Band des Namenlosen Herrn Seine Pforte zu erreichen. Aber bei ihrem Abstieg hat die Seele das Bindeglied gelöst und ihre wirkliche Natur vergessen. In die grobstofflichen Umhüllungen des Körpers und Gemüts verstrickt, hat sie ihre Wahre Heimat aus den Augen verloren und sich mit ihrem Kerker identifiziert.

In Seinem Brief vom 15. Mai 1900 sagt Baba Ji:

Seit sich der Jiva Atman von Sach Khand – der Wahren Heimat – und von Shabd Dhun trennte, hat er seinen Glauben in den Sat Purush – den Wahren Einen – und Shabd Dhun verloren. Aber Shabd gibt ständig auf ihn acht, wenn er auch nichts davon weiß, da er sich an Gemüt und Maya, die äußerst trügerischen Objekte Mayas und der Sinne, fest gebunden hat. Er liebt sie so sehr, dass er nicht erkennt, welcher Nachteil ihm daraus entsteht, indem er für gut und zuträglich hält, was ihm in Wirklichkeit Schaden bringt. Die Liebe zum Gemüt hat ihn unbewusst gemacht, und das Gemüt wiederum ist durch die Sinnesfreuden empfindungslos geworden; schließlich hat Maya einen solchen Zauber auf ihn ausgeübt, dass er sich nicht mehr von seiner Ohnmacht erholen kann.