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Das reiche Erbe

Im religiösen Denken des modernen Indien ist die Periode von der Mitte des vierzehnten bis zur Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts von überragender Bedeutung. Es ist eine Ära, in welcher der Versuch gemacht wurde, die Religion den Bedürfnissen der Zeit neu anzupassen und sie in ihrer einfachsten Form, der Form Wahren Glaubens, Allumfassender Liebe und Aufrichtiger Ergebenheit, zu lehren, im Gegensatz zur Strenge des priesterlichen Ritualismus und Fanatismus, die zu Intoleranz und Bigotterie führen. 

Zu den Großen Lehrern dieser Epoche gehören Persönlichkeiten wie Ramananda und Seine Hauptschüler, die verschiedener Herkunft waren (Raja Pipa; Ravidas, ein Schuster; Saina, ein Barbier; Kabir, ein Weber; Dhanna, ein Soldat; Narhari, Sukha Padmavati, Sursura und seine Frau usw.); Vallabhacharya, der bekannte Vertreter des Krishna-Kults; Chaitanya Mahaprabhu aus Nadia in Bengalen mit Seiner charakteristischen Betonung von Hari Bol, den Namen des Herrn preisen; Namdev, der Kattundrucker in Maharashtra, und die Großen Heiligen Kabir und Nanak im Norden. 

Keiner von Ihnen legte besonderen Wert auf Idol-Verehrung oder die Beachtung äußerer religiöser Formen und Symbole. Selbstreinigung, Liebe und Inneres Verlangen waren Ihre ständigen Themen.

Namdev sagte:

Die Liebe für Ihn, Der mein Herz erfüllt, soll niemals enden; Nama hat sein Herz dem Wahren Namen geweiht. Gleich der Liebe zwischen einem Kind und seiner Mutter ist meine Seele von Gott durchdrungen.

Ebenso sagte Kabir:

Es ist unnötig, einen Heiligen zu fragen, welchem Stand Er angehört; der Barbier wie der Waschmann haben Gott gesucht und ebenso der Zimmermann; auch Ravi Das war ein Sucher nach Gott. Der Rishi Swapacha war Gerber von Beruf. Hindus und Moslems haben das Ziel erreicht, wo kein Merkmal eines Unterschiedes bleibt.

Ferner erklärt Er:

Nicht durch Fasten, Aufsagen von Gebeten und das Glaubensbekenntnis kommt man in den Himmel. Der Innere Schleier des Tempels von Mekka ist im Herzen des Menschen, wenn die Wahrheit erkannt wird.

Und Guru Nanak sagte:

Inmitten der Unreinheit der Welt halte am Reinen fest; so findest du den Weg zur Religion.

Diese Bewegung erlangte jedoch die höchsten Höhen unter der Führung Kabirs (1398–1518) und Nanaks (1469–1539), beide von Ihnen lebten fast zur gleichen Zeit, wodurch die Beiden für eine ziemlich lange Zeit Zeitgenossen waren. Beide erhoben sich über die Fesseln der Welt, überschritten die religiösen Barrieren und wurden so von Hindus und Moslems gleicherweise verehrt. Mittelpunkt Ihrer Lehren war Gott, der Mensch und die Beziehung zwischen beiden. Sie waren Vertreter des Surat Shabd Yoga, Yoga des Tonstroms oder der Verbindung mit dem Heiligen Wort, und Ihre Schriften rühmen ihn als die Krone des Lebens. Wenn wir den Wesenskern einer der religiösen Lehren in ihrer ursprünglichen Reinheit und Wahrheit studieren würden, so wie er in den Aussprüchen der Meister dargelegt, von Ihnen selbst tatsächlich praktiziert und Ihren auserwählten Schülern – den Gurumukhs oder Aposteln – weitergegeben wurde, dann erkennen wir zweifellos, dass Sie alle in der einen oder anderen Form Ergebene des transzendenten Hörens und Sehens waren, ganz gleich auf welcher Stufe; den Laien freilich vermitteln Sie Ihre subtilen Gedanken nur in Gleichnissen, da sie anders Ihre subtilen Lehren gar nicht anhören, geschweige denn verstehen würden.

Solche Weltlehrer dienen als Leitstern auf dem stürmischen Meer des Lebens, und Sie suchen die Menschen aus der Mühsal im Treibsand der Zeit zu erretten. Als Kinder des Lichts kommen Sie in die Welt, um die Finsternis der Seele zu vertreiben, und werden darum Guru genannt: der die Finsternis zerstreut, eine aus Unwissenheit über die wahren Werte des Lebens geborene Finsternis. Sie haben Grenzenlose Liebe für alle Religionen und ihre Oberhäupter und gleiche Achtung für alle Schriften. Ihre Herde ist Universaler Art; sie umfasst in einem weiteren Rahmen die ganze Menschheit in all ihren mannigfaltigen Farben und Formen und sättigt sie gleichermaßen mit der Liebe Gottes.

In diesem Zusammenhang sagt Kabir:

Alle unsere Weisen sind der Verehrung würdig, doch meine Ergebenheit gehört Einem, Der das Wort gemeistert hat.

Weiter sagt Er uns, dass Er Sich mit Seiner Göttlichen Botschaft von Zeit zu Zeit zum Wohle der Menschheit inkarniert habe. Er kam in allen vier Yugas oder Zeitzyklen, zuerst als Sat Sukrit, dann als Maninder, danach als Karunamai und schließlich als Kabir im Kali Yuga, der gegenwärtigen Zeitspanne.

Auch Guru Nanak lässt uns immer wieder wissen, welche große Bedeutung und überragende Wirksamkeit die Methode des Surat Shabd Yoga als Mittel zur Erlösung hat.

Wie sich die Lotosblume über den schlammigen Teich erhebt oder der königliche Schwan sich trocken aus dem Wasser emporschwingt, so überquert man durch die Verbindung mit dem Wort unversehrt das schreckliche Meer des Lebens.

Das ist kurz die erhabene Botschaft, die seit Beginn der Schöpfung zu uns herabkommt und den Pfad zu Gott rühmt. Alle indischen Heiligen und viele christliche Mystiker praktizierten die Innere Wissenschaft und verbanden menschliche Seelen mit der rettenden Lebensschnur im Innern1.

*Immer wieder, wenn die Menschen die Wirklichkeit vergessen, materialisiert sich die Gnade Gottes in einem menschlichen Körper, der dann Heiliger genannt wird, um die irrende Menschheit auf dem altehrwürdigen, Ewigen Pfad zu führen. Es ist das Privileg und das Vorrecht, das der Höchste gewährt, und diese Autorität wird Seinem Geheiß entsprechend weitergegeben. Der Wind bläst, wo Er will und niemand kann irgendwelche Regeln der Nachfolge, den Ort oder die Zeit festlegen oder vorhersagen.

Diese reiche Erbschaft geht von Auge zu Auge und weigert sich, an die altehrwürdigen Gaddis, die sogenannten geheiligten Stätte und heiligen Orte, gebunden zu werden, noch ist sie von menschlicher Zustimmung einer weltlichen oder geistlichen Art abhängig. (* Die Übersetzung dieses Abschnitts ist an die englischsprachige Erstedition von 1960 angeglichen; Anm. d. Redaktion 2011.) Guru Nanak, Der Seinen Sitz in Kartarpur hatte, gab Sein Spirituelles Erbe an Bhai LehnaGuru Angad nach Khadur Sahib ging, während Sein Nachfolger, Guru Amar Das, Seinen Sitz nach Goindwal verlegen musste. Durch Guru Ram Das entstand Amritsar und wurde später zum Zentrum von Guru Arjan.

So können wir sehen, dass den Orten an sich nichts Besonderes eigen ist. Sie verdanken ihre Heiligkeit dem Heiligenden Einfluss der Gottmenschen, Die Sich während Ihrer Lebenszeit an dem einen oder anderen Ort aufhielten.

Alles ist heilig, wo man in Hingabe kniet.

Nicht die Orte bringen den Menschen Ehre, sondern die Menschen den Orten.

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Erläuterung: 1) Für ausführliche Einzelheiten in diesem Zusammenhang, wird der Leser auf das Buch ‘Naam oder das Wort’ vom selben Autor verwiesen. Eine Studie, welche einen vollständigen Bericht über die Lehren der Meister aus allen Zeitaltern gibt.