II / (ii)

Die große Suche

Wenn Jaimals Interesse an der Spiritualität nur eine auf Stein oder Sand gefallene Saat gewesen wäre oder eine in der Wurzel noch zarte, junge Pflanze, nicht mehr als das Ergebnis bloßer Neugier oder spontaner Frömmigkeit eines einfachen Dorfjungen, dann hätte beim Tod Seines Vaters auch für Sein Suchen die Totenglocke geläutet. Da Er das älteste männliche Mitglied der Familie war, fiel nun die Last der häuslichen Verantwortlichkeit auf Seine Schultern; und vielleicht sind dem Himmel schon mehr Seelen durch die irdische Pflichterfüllung verloren gegangen als durch direkte Sünde und Übeltat.

Jaimals Drang jedoch war eine Pflanze mit zäheren Wurzeln und von stärkerer Struktur. Unerschrocken und unbewegt teilte Er die äußeren Pflichten unter Seinen Brüdern auf, hielt weiter an Seinen strengen Gewohnheiten fest und meisterte innerhalb von sechs Monaten den Yoga Vashishta und Vichar Sangreh, zwei Standardwerke der Hindu-Theologie.

Etwa zur selben Zeit kam ein Sadhu der Udasi-Bewegung ins Dorf. Auch diesen suchte Jaimal auf und erkundigte Sich nach der Bedeutung von Textstellen, die Er Sich aus dem Granth Sahib herausgeschrieben hatte. Der Sadhu ließ Ihn wissen, dass er Ihn zwar nicht in die Geheimnisse des Panch Shabd einweihen könne, wohl aber in die des Ghor Anhad oder des tief klingenden Tons, auf den in den Sikh-Schriften hingewiesen wird. Jaimal, Der eifrig bestrebt war, alles zu lernen, was Er nur konnte, bot Sich als Schüler an. Doch das Diwali-Fest war nahe, das Sein neuer Lehrer in Amritsar feiern wollte.

Da Jaimal diese Gelegenheit nur ungern versäumt hätte, ging Er zu Seiner Mutter und bat sie um die Erlaubnis, Sich dem Sadhu anschließen zu dürfen, um so in Seiner Suche nach der Wahrheit weiterzukommen. Aber Bibi Daya hatte für das Wohlergehen der Familie zu sorgen und wollte von dem Weggehen ihres ältesten Sohnes nichts hören. Sie erinnerte Ihn an Seine Pflichten.

Dein Vater ist nicht mehr,

sagte sie,

und du musst alles an seiner Stelle weiterführen. Was soll aus uns werden, wenn du weggehst?

Ich bin nicht gleichgültig gegen das, was Ihr sagt, meine liebe Mutter,

erwiderte Er,

aber der Herr ist über uns, und Er, der Seine Geschöpfe selbst auf den Felsen und im Meer erhält, wird auch unseren Bedarf nicht vergessen. Des Menschen erste Pflicht ist es, seinen Schöpfer zu suchen, alle äußeren Pflichten kommen erst an zweiter Stelle. Seid nicht bekümmert, sondern guten Mutes, und gebt mir Euren Segen.

Bibi Daya, selbst tief religiös, war berührt von dem, was Jaimal mit einer solchen Überzeugung aussprach. Sie sah Seine Entschlossenheit und liebte Ihn zu sehr, um Sein Herz brechen zu wollen, und so ließ sie sich schließlich erweichen.

Ich weiß, dass ich dich nicht halten kann, und ich will es auch nicht. Aber wenn du schon gehen musst, versprich, nach Hause zurückzukommen, wenn dein Suchen beendet ist.

Jaimal gab Sein Ehrenwort und so nahmen Seine Mutter und Seine Brüder tränenreichen Abschied von Ihm. Er war kaum fünfzehn Jahre alt und schon auf einer Suche, die Ihn durch viele Städte führen sollte und für Ihn große Mühe und Plage mit sich brachte. Es war zu einer Zeit, als es in Indien noch keine Eisenbahn gab (1853), geschweige denn moderne Autostraßen und Luftwege. Die Reichen konnten natürlich auf Pferden reiten, aber das einfachere Volk war auf die Kraft und Festigkeit seiner Füße angewiesen.

Das Reisen war schwierig und mühsam. Es lag nicht lange zurück, dass die Briten den Punjab eroberten, und die Verhältnisse waren noch unsicher. Der große Aufstand hatte erst vor einem Jahrzehnt stattgefunden, aber das Volk zeigte sich widerspenstig, und durch die Unzufriedenheit begann es, im Lande zu gären.

Unter solchen Verhältnissen machte sich Jaimal auf den Weg nach Amritsar. Dort angekommen, wurde Er am dritten Tage Seines Aufenthaltes in einem Park von dem Udasi-Sadhu in die Wissenschaft des Ghor Anhad eingeweiht. Wie Seinem Zeitgenossen Sri Ramakrishna (1836–1886) war es Jaimal bestimmt, zu den Füßen vieler anderer Lehrer zu sitzen, ehe Er Seinem Wahren Meister begegnete. Wie dieser hatte Er sich vielen Sadhans, Übungen, zu unterziehen und kam in jedem rasch voran. Und gleich diesem war auch Er dazu ausersehen, nicht wie andere Yogis an einen von ihnen gebunden zu sein, sondern immer weiter vorwärts zu drängen, einem immer höheren Ziel entgegen. Die frühzeitige Beherrschung des Granth Sahib kam Ihm dabei sehr zustatten. Er diente Ihm als unfehlbarer Prüfstein, mit dem Er alles neu Erreichte untersuchen konnte, was Ihn zugleich erkennen ließ, dass Sein Wahres Ziel noch weit entfernt lag.

Nachdem Er Japa und Pranayama geübt und die Ekstase des Ghor Anhad voll erfahren hatte, wurde die Suche nach dem Geheimnis des fünf-fältigen Wortes zu Jaimals vorherrschender Leidenschaft. Als Er Sich in Amritsar aufhielt, versäumte Er nicht, mit anderen Yogis und Sadhus Verbindung aufzunehmen und sie nach Anhaltspunkten zu fragen für das, was Er suchte. Einer von ihnen erwähnte, Er könne den Gegenstand Seines Suchens möglicherweise zu den Füßen von Baba Gulab Das ausfindig machen, der in dem Dorf Chatyala lebte.

Der Junge bedurfte keiner weiteren Anregung und bald versuchte Er mit Hilfe der Schüler von Gulab Das zu ihrem Meister zu gelangen. Seine Bitte wurde erfüllt und so erschien Er bei dem ehrwürdigen Sadhu. Es ergab sich eine lebhafte Unterhaltung, die einige der älteren Schüler, die dabei waren, gegen den Neuankömmling wegen Seines jugendlichen Alters aufbrachte. Doch Gulab Das versicherte sie, dass Jaimal, wenn auch jung an Jahren, im Geiste reif und ein echter Gottsucher sei. Er bemühte sich, den Knaben zufrieden zu stellen, so gut er es vermochte, und erklärte Ihm, dass Naam nichts anderes sei als der Ton, der in den Pranas vibriere, und führte Ihn noch weiter in die Geheimnisse des Pranva oder des Prana Yoga ein.

Jaimal, Der wohl bereit war, alles zu lernen, was Er nur konnte, war jedoch nicht überzeugt von der Erklärung des Sadhu, die, wie Er ihm sagte,

a) die Zahl ‘fünf’, die im Granth Sahib immer wieder im Zusammenhang mit dem Inneren Shabd genannt werde, unberücksichtigt lasse und

b) der Tatsache nicht gerecht werde, dass die Sikh-Gurus wiederholt erklärten, der Pfad von Naam sei ein anderer als der der übrigen Yoga-Formen, die nicht die höchste Befreiung geben könnten.

Jaimals Suche führte Ihn von Chatyala nach Lahore, wo es Hindu-Sadhus und Moslem-Ergebene aller Art gab. Der junge Sikh suchte immer ihre Gesellschaft und war ununterbrochen mit ihnen zusammen. Aber soviel Er auch suchen mochte, Er erhielt keinen weiteren Hinweis. Obgleich Er Sich in einer großen Stadt befand und viele Meilen gewandert war, keinen Heller in der Tasche hatte und kaum einmal Seiner nächsten Mahlzeit sicher sein konnte, ließ Er Sich wegen Seiner misslichen Lage nicht im Geringsten aus der Fassung bringen. Er lebte in der Hoffnung, hinter das Geheimnis zu kommen, welches keiner für Ihn lösen konnte. Mit müden Füßen und schwerem Herzen begab Er Sich nach Nankana Sahib, dem Geburtshaus von Guru Nanak, einem Pilgerort der Sikhs.

Aber auch in Nankana Sahib konnte Jaimal nicht finden, wonach Er verlangte. Die Vorsehung ist oft voller Geheimnisse. Der Weg des Suchers kann mit unzähligen Hindernissen übersät sein, die ihm fast das Herz zu brechen scheinen. Doch in dem Augenblick, wo Er dem Zusammenbruch nahe ist, kommt ein Wort der Ermutigung, ein Hoffnungsstrahl leuchtet auf, der Ihn vor der großen Verzweiflung errettet und Ihn auf den Weg zum Neuen Jerusalem stellt. Und so traf der Junge, nunmehr fünfzehn Jahre alt, in Nankana Sahib Bhai Jodha Singh der Namdhari-Schule, der Ihn an Baba Balak Singh von Hazro verwies, einem westlich von Attock gelegenen Ort im nordwestlichen Grenzland, wie es später genannt wurde. Mit unverminderter Entschlossenheit begann Jaimal die lange Reise. Zuerst hielt Er in Aminabad an, von wo aus Er nach Shah Daulah ging. Von dort ging es weiter über den Jhelum-Fluss nach Tila Balnath und dann in Richtung Rawalpindi.

In jeder dieser Stätte blieb Er ein paar Tage und versäumte niemals, mit den heiligen Männern und Sadhus, die dort zu finden waren, Verbindung aufzunehmen. Da Er nicht weit von Panja Sahib entfernt war, der berühmten Stätte, die von einem denkwürdigen Wunder Guru Nanaks kündet1, besuchte Er den Heiligen Ort, obwohl er etwas abseits von Seinem eigentlichen Weg lag. Dort hielt Er Sich für eine Weile auf und erfreute Sich der Landschaft und des klaren Wassers, das sich aus der Heiligen Quelle ergoss. Von hier aus wandte Er Sich Attock zu und erreichte schließlich Hazro, Seinen Bestimmungsort.

Er war sehr glücklich, den ehrwürdigen Baba Balak Singh zu sehen, der von dem Eifer und dem starken Spirituellen Verlangen seines jungen Besuchers tief beeindruckt war. Sie lasen, rezitierten und erörterten den Granth Sahib und verbrachten so einige segensreiche Tage. Balak Singh war ein Mann von großer Weisheit und Frömmigkeit, aber was die Spiritualität anbetraf, war er wie Gulab Das nur mit dem Japa durch Prana vertraut und wusste kaum etwas über Panch Shabdi Naam, von dem Kabir und die Großen Sikh-Gurus gesprochen hatten. Er machte seinem jungen Freund jedoch Hoffnung und sandte Ihn nach Chikker zu einem Familienvater und Sikh von großem Spirituellen Ansehen.

Jaimal traf, aus Hazro kommend, in Chikker ein und hörte Sich nach dem Mann um, den Er suchte. Er konnte jedoch keinen Hinweis erhalten, bis Er einem alten einsamen Sikh begegnete, der den jungen Fremden fragte, ob er Ihm auf irgendeine Weise dienlich sein könne. Jaimal erzählte, woher Er gekommen war, nannte ihm den Zweck Seiner Suche und bat, zu dem am Ort wohnenden heiligen Mann geführt zu werden. Der alte Mann, der selbst der Gesuchte war, entgegnete freundlich, dass hier seines Wissens kein solcher Heiliger leben würde, erbot sich aber, Ihm zu helfen, soweit es in seiner Macht läge.

Jaimals langes und eifriges Forschen begann, endlich Frucht zu tragen. Der Mahatma, in dessen Haushalt Er nun aufgenommen wurde, gab Ihm die ersten bestimmten Anhaltspunkte für das, was Er suchte, und stellte Ihn auf die Anfangsstufe der Spirituellen Leiter. Bald nach Seiner Ankunft erhielt der gotttrunkene Knabe die Initiation. Seine früheren Annahmen bestätigten sich und es wurde Ihm zur Gewissheit, dass der Pfad von Naam wenig mit anderen Yoga-Praktiken gemein hatte. Nach der Initiation wies Er jedoch darauf hin, dass die Schriften von einem fünf-fältigen Wort sprachen, während Er nur zwei erhalten hatte. Als dies Sein Gastgeber und Lehrer hörte, erzählte er Ihm die Geschichte seiner eigenen Initiation:

Vor vielen Jahren ging ich nach Peshawar. Dort begegnete ich einem Großen Mahatma und wollte von Ihm initiiert werden. Er nahm mich als Schüler an, erschloss mir die Geheimnisse der ersten beiden Shabdas und hieß mich zurückkommen, sobald es mir möglich sei.

Ich ging in mein Dorf und beabsichtigte, dem Rat zu folgen. Aber so sind die Fallen von Maya: Wegen unvorhergesehener Verpflichtungen war ich nicht in der Lage, meinen Wunsch in die Tat umzusetzen. So vergingen zwei Monate, und als ich endlich Peshawar erreichte, war mein Meister nicht mehr am Leben und hatte den Schlüssel für die übrigen Stufen des Heiligen Naam mit Sich genommen.2

Jaimal blieb keine Wahl. Er musste Sich mit dem zufrieden geben, was Er bekam. So hielt Er Sich noch einige Zeit bei dem Sikh-Mahatma auf, erfreute Sich seiner Gastfreundschaft und inspirierenden Gesellschaft und entwickelte fleißig die Gabe, die Er erhalten hatte. Dann kam der Tag, an dem Er von Seinem gegenwärtigen Lehrer bewegt Abschied nahm und nach Peshawar aufbrach, um Seine unerfüllte Suche fortzusetzen. Er hatte die Befriedigung, auf dem rechten Pfad zu sein, aber Er war nicht der Mensch, der ruhte, solange Er nicht Sein Ziel erreicht hatte. In der uralten Grenzstadt hielt Er, gleich einem leidenschaftlichen Jäger, erneut Ausschau nach einem Menschen mit voller Gottverwirklichung. Peshawar war jedoch nicht der Ort, wo Sein Suchen von Erfolg gekrönt und Sein Durst gestillt werden sollte.

Als Er unter Pathans durch die vielen Straßen wanderte, hielt Ihn ein Mastana-Sikh an, welcher durch die Göttliche Trunkenheit der Alltagswelt des vernunftgeleiteten Verhaltens verloren war, und grüßte Ihn mit den Worten:

Warum wendest du soviel Mühe im Norden auf, wo doch dein Tag vom Osten her dämmern wird?

Obwohl Er nichts weiter von dem fremden Ratgeber herausbringen konnte, folgte Er seinem Fingerzeig und machte Sich auf den Weg zurück zum Punjab. Als Er Rawalpindi erreichte, entschloss Er sich, das wohlbekannte Kashmir-Tal und den beliebten Gebirgsort Murree zu besuchen. Da Er die Schönheiten der Natur liebte, freute Er Sich sehr über diese Bergtour, und in Kashmir begegnete Er vielen Sadhus. All dieser Besichtigungen müde, kehrte Er schließlich heim. Zerlumpt und ohne Schuhe an den Füßen oder Geld in der Tasche kam Er schließlich zur großen Freude Seiner lieben Mutter und Seiner Brüder, die Ihm herzlich zugetan waren, nach Ghuman zurück.

Die Familie feierte Seine Rückkehr im traditionellen Stil. Sie brachte dem Allmächtigen Dankopfer dar, las aus den Heiligen Schriften und sang Hymnen. Sie verteilte Süßigkeiten unter den Nachbarn und speiste die Armen. Jaimal Singh, Der jetzt sechzehn Jahre alt war, nahm Seine familiären Pflichten wieder auf und widmete sich der Festigung dessen, was Er auf Seiner kürzlichen Reise gelernt hatte.

Bald nach Seiner Rückkehr kam der Sathyala-Yogi, der Ihn drei Jahre vorher in den Pranayama eingeführt hatte, seinem Abschiedsversprechen getreu nach Ghuman, um seinen jungen Schüler zu sehen. Jaimal Singh empfing Ihn in Demut und Verehrung, und der frühere Lehrer erbot sich, Ihn mit anderen Praktiken des traditionellen Yoga bekannt zu machen. Aber der Jüngling war nun kein Kind mehr. Seine weiten Reisen und die verschiedenen Erfahrungen, von denen sie begleitet waren, hatten Ihn gereift. Was Ihm einst erstrebenswert schien, war für Ihn nicht länger von besonderem Wert, denn Seine Verbindung mit so vielen Yogis hatte Ihn letztlich zu der Überzeugung kommen lassen, dass die Kriyas des Hatha Yoga Ihm zwar ungewöhnliche physische und geheime Kräfte verliehen, aber nicht vollkommenen Inneren Frieden und Innere Freiheit geben konnten. Jeder neue Tag bestärkte nur Seine alte Überzeugung, dass der Pfad vollständiger Befreiung, Mukti, woanders lag, und alles, was Er nun suchte, war die Initiation in die Mystik des Panch Shabd.

Die Zeit eilte dahin auf ihrer flüchtigen Bahn, aber Jaimal Singh gehörte nicht zu den Menschen, die müßig herumsitzen oder sich mit dem Nächstbesten zufrieden geben.

Erwache, erhebe dich und ruhe nicht, bis das Ziel erreicht ist,

schärft ein alter Veden-Text ein, und Sein Leben war eine lebendige Verkörperung dieses Leitsatzes.

Knapp acht Monate waren seit Seiner Rückkehr verstrichen, als das Innere Drängen, Seine Suche nach dem Heiligen Naam von Neuem aufzunehmen, so mächtig wurde, dass Er nicht widerstehen konnte und Seine Mutter ein weiteres Mal um die Erlaubnis bat, gehen zu dürfen.

Wie kannst du von mir erwarten, dich auch jetzt fortzulassen? Damals warst du ein Kind, aber heute bist du erwachsen und kennst deine Pflichten.

Ach Mutter, bei meiner Geburt habt ihr gebetet, einen frommen Sohn zu bekommen. Warum soll ich nun zurückgehalten werden?

– Wie kannst du so sprechen? Habe ich dich jemals an deinen religiösen Neigungen gehindert? Du kannst doch deinen Andachtsübungen und der Spirituellen Schulung zu Hause nachgehen.

Doch Jaimal meinte:

Wie können ein frommes und ein weltliches Leben zusammenpassen?

– Du hast doch selbst gesehen, wie nach dem Tod deines Vaters andere über unser Land verfügt haben. Wir hatten gerade genug zu essen, und was wird sie daran hindern, das Übrige gewaltsam in Besitz zu nehmen, wenn du weg bist? Deine Brüder sind noch zu jung.

Lasst sie nehmen, was immer sie wollen. Diese Welt ist nicht die unsere, und selbst, wenn uns dieses Land nicht weggenommen wird, müssen wir es eines Tages doch zurücklassen, wenn unsere Lebensspanne zu Ende ist. Wir haben nur für unsere Nahrung zu sorgen. Was tut es, wenn unser ganzer Besitz verloren geht? Der Herr hat uns starke Arme gegeben und mit Seiner Gnade werden wir ehrlich unseren Lebensunterhalt verdienen.

Ihn, den nichts von Seinem Vorhaben abbringen konnte, als Er noch ein Kind war, konnte auch jetzt nichts abschrecken, und Bibi Daya hatte keine andere Wahl, als Ihn gehen zu lassen. So nahm Jaimal Singh im Alter von noch nicht siebzehn Jahren Seine Spirituelle Suche wieder auf. Nachdem Er den Punjab und den Nordwesten nahezu ganz durchquert hatte, lenkte Er, die Worte des Mannes aus Peshawar noch im Ohr, Seine Schritte ostwärts. Die Zeiten waren unsicher und die Briten hatten ihre Stellung in den eroberten Gebieten des Nordens noch nicht völlig gefestigt. Nächtliche Reisen waren daher verboten, und an den Hauptstraßen waren Wachtposten stationiert, die jeden unterwegs anzuhalten hatten. Aber Jaimal Singh war zu eifrig, um Sich auf diese Weise beschränken zu lassen. Die erste Hälfte der Nacht verbrachte Er ruhend und schlafend und in der zweiten, wenn die Posten eingenickt waren und schlummerten, setzte Er Seine Reise, so rasch es ging, fort.

In Vairach, einem Dorf an den Ufern des Beas, noch nicht weit von zu Hause entfernt, begegnete Er einem Sadhu namens Kahan, der damit beschäftigt war, Ziegelsteine zusammenzutragen.

Guten Tag, heiliger Mann,

sprach ihn der Junge an.

Womit seid Ihr so sehr beschäftigt?

Nichts, mein Sohn, nichts, ich sammle nur Material für Deine zukünftige Behausung,

antwortete Kahan lächelnd und vertiefte sich weiter in sein Werk.

Wenn andere aus dem Dorf ihn danach fragten, erwiderte er mit charakteristischer Kürze:

Hier wird sich eines Tages ein Tempel erheben

und verfiel in sein gewohntes Schweigen.

Jaimal, Der nicht wusste, wohin Er gehen sollte, wandte Seine Schritte gen Hardwar an die Ufer des heiligen Ganges, das ein vielbesuchter Ort der frommer Menschen war. Tag und Nacht unterwegs, legte Er die Entfernung mit beachtlicher Geschwindigkeit zurück und erreichte so in zwölf Tagen den Ganges.

Er suchte die Ghats, Stufen zum Fluss, von Hardwar auf, das damals eine kleine, fast nur von Pandits und Sadhus bevölkerte Stadt war, hörte gelehrten Yogis zu, stellte ihnen Fragen und erörterte mit ihnen Seine Probleme. Vom Zentrum der Stadt aus wanderte Er den Fluss entlang und besuchte alle heiligen Orte in der näheren Umgebung. In Tappo Ban hörte Er von einem sehr alten Sadhu, der ungefähr 150 Jahre zählte, nicht weit entfernt mitten im Dschungel lebte und große Kräfte besaß, aber selten zu denen sprach, die zu ihm kamen.

Unbeirrt von dem, was Er über das Schweigen des Yogi gehört hatte, nahm Jaimal Singh Seinen Weg in Richtung des Waldes und fand schließlich die Behausung des Eremiten.

Der Sadhu war mit seinen Spirituellen Übungen beschäftigt und zollte denen, die sich bei ihm einfanden, um Ihn zu sehen und durch seinen Anblick gesegnet zu sein, keine Beachtung.

Es wurde Abend und der Himmel und die Zweige oben erfüllten sich von dem Gezwitscher der heimkehrenden Vögel mit Leben. Die Besucher gingen wieder, denn im Wald wird es rasch dunkel, und wer konnte sagen, ob nicht im Dickicht ein wildes Tier auf Beute lauerte. Allein Jaimal Singh blieb. Die Nacht brach herein, doch der Yogi nahm keine Notiz von Ihm. Endlich stand er auf, ging zu einer Schaukel, die in der Nähe von einem Ast herabhing, stellt sich dort hin und ließ die Arme auf dem hölzernen Sitz ruhen. Stunde um Stunde verging, aber der Asket stand bewegungslos und zeigte keinerlei Anzeichen von Ermüdung. Schließlich wich die Dunkelheit und machte seiner nächtlichen Geduldsprobe ein Ende. Er verließ den Platz, verschwand im Dschungel und kehrte nach einem Bad zurück. Jaimal hatte eine lange Nachtwache gehalten und beobachtete das ungewöhnliche Verhalten dieses seltsamen Mannes. Als der Sadhu vom Bad zurückkam, war endlich zu erkennen, dass er sich der Gegenwart seines Besuchers bewusst war. Er fragte Ihn, wer Er sei und was Er wolle. Der Jüngling nannte Seinen Namen und den Ort, woher Er kam, und fügte hinzu:

Heiliger! Seit vielen Jahren suche ich nach Wahrer Spiritueller Erleuchtung. Ich hörte von Eurem Ruhm und Euren großen Kräften und komme als Bittsteller zu Euch. Ich habe mit Interesse Eure mir unbekannten Übungen beobachtet, und wenn sie tatsächlich völlige Befreiung von der Inneren Ruhelosigkeit bringen, dann weiht mich bitte in ihre Geheimnisse ein.

Der Sadhu schwieg. Er saß still da und hielt die Augen geschlossen. Als er sie nach einer Weile öffnete, antwortete er:

Mein Sohn, meine Schulung ist schwer und verleiht viele Kräfte; aber was die Innere Spirituelle Freiheit betrifft, so muss ich leider sagen, dass sie mir diese nicht gebracht hat.

Jaimal Singh wollte den Yogi noch mehr fragen, doch dieser blieb still und zog sich von der Welt des äußeren Bewusstseins in die Meditation zurück. Die Sonne stieg am Himmel empor und wieder war ein Tag vorüber. Einige Fromme kamen, um den berühmten Yogi zu sehen, verneigten sich ehrfurchtsvoll zu seinen Füßen und ließen etwas Nahrung für Jaimal Singh und einige Gaben für den Asketen da. Dann gingen sie wie tags zuvor. Die Nacht kam, und abermals blieb der Jüngling aus Ghuman. Der Yogi erhob sich von seinem Platz und brachte die zweite Nacht auf dieselbe Weise zu wie die erste. Im Morgengrauen nahm Er ein Bad, und bei seiner Rückkehr winkte er Jaimal an seine Seite.

Mein Sohn, ich kann dir nicht viel sagen.

sagte er.

Aber in meiner Meditation sah ich, dass der Guru, Den du suchst, mit Seiner Frau in Agra lebt. Er ist wirklich eine Große Seele und spricht über den Granth Sahib. Er wird dir die Schätze des Panch Shabd erschließen. Wende dich dorthin und ich selbst will dir folgen, sobald ich an Seinen Gaben teilhaben kann.

Welche Last fiel von Jaimal Singhs Schultern! Wie viele Nächte hatte Er Sich hin- und hergewälzt, gebetet und Sich gefragt, ob Gott je Seine Wünsche erfüllen würde. Der Fremde von Peshawar hatte Seine Hoffnung genährt, aber seine Worte waren unklar, und nichts war gewiss. Jetzt endlich war Ihm ein deutlicher Hinweis gegeben worden, und es schien Erfolg in Sicht. Der Herr war in der Tat gnädig und übersah nicht die Bitte Seines ergebenen Dieners. Im Geiste erfrischt und voller Zuversicht verneigte Sich der Knabe vor dem Yogi, der sich nun in Schweigen hüllte, und nahm mit einem von unaussprechlicher Dankbarkeit überfließenden Herzen demütig Abschied.

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Erläuterung: 1) Es wird über Guru Nanaks Leben berichtet, dass der Große Weise die Gegend mit Seinen ergebenen Schülern, Bala und Mardana, bereiste. Die Gruppe fühlte sich äußerst durstig und da schien keine Spur von Wasser in Umgebung zu sein. Der Weise führte sie zu Wali Kandhari, einem moslemischen Einsiedler, welcher an einem Hang neben einer Quelle wohnte.

Der Wali, in seiner eigenen Überheblichkeit versunken, schickte die Fremden mit leeren Händen davon. Als sie erneut auf Bitten ihres Meisters zurückkehrten, spottete er: „Wenn euer Guru ein so großer Mann ist, wie ihr behauptet, kann Er nicht einmal euren Durst löschen?“

Als diese Worte Nanak berichtet wurden, Der am Fuße des Hanges unten stand, lächelte Er und schlug mit der flachen Hand auf den Felsen. Auf der Stelle sprang ein klarer Strahl hervor und jedermann trank zu seiner Fülle. Der Wali war voller Reue aber nun war es zu spät; und zu seiner Bestürzung entdeckte er, dass die Quelle, welche bei seiner Hütte floss, plötzlich ausgetrocknet war. Der Fels, auf den der Heilige schlug, trägt immer noch den Abdruck Seiner Handfläche und Finger und ein klarer Wasserstrom sprudelt unter ihm hervor. Er ist ein großes Pilgerzentrum für die Sikhs.

2) In der Vergangenheit war es eine übliche Praktik der Mystiker, ihre Schüler gradweise in die Innere Wissenschaft einzuführen. Nachdem der Sadhak eine Stufe gemeistert hatte, wurde er mit den Geheimnissen der Nächsten vertraut gemacht und so weiter, bis zum Schluss. Gegen diese Methode war an sich nichts einzuwenden, aber oft führte sie zu einem Ergebnis, wie eben beschrieben.

Nach Seiner Initiation durch Soami Ji in Agra begegnete Jaimal einige Jahre später in Delhi einem Moslem-Ergebenen, der auf gleiche Weise wie der Mahatma aus Chikker unter dem frühen Tod seines Meisters gelitten hatte. Um solche Fälle zu vermeiden, initiieren die Meister des Surat Shabd Yoga heutzutage Ihre Schüler sofort in die Geheimnisse aller fünf Inneren Ebenen, die die Seele zu überqueren hat, bevor sie sich mit dem Absoluten vereinen kann.